Die Sache mit der Kernenergie: Die aktuelle Lage (Teil 1)

Deutschland hat sich für die Abkehr von der Kernkraft entschieden. Zum Jahreswechsel sind drei der letzten sechs aktiven Kernkraftwerke in Deutschland vom Netz gegangen und Ende 2022 sollen auch die letzten stillgelegt werden. In der Presse jedoch wird aktuell viel von einer Renaissance der Kernenergie gesprochen und die EU plant, Kernenergie als grün zu bezeichnen. Und es tauchen Fragen auf wie: Sollte man nicht die bestehenden Kernkraftwerke länger laufen lassen…? Oder vielleicht macht es sogar Sinn, wieder verstärkt in diese Technologie einzusteigen…? Da sich derzeit viele diese oder ähnliche Fragen stellen, wollen wir im Rahmen der kommenden Blogbeiträge einzelne Argumente zusammentragen, damit sich jeder seine eigene Meinung bilden kann. Starten wir mit Teil 1: Die aktuelle Lage der Kernenergie.

Seit 20 Jahren schwankt die jährliche globale Stromproduktion aus der Atomkraft um 2500 TWh (Terawattstunden). Der Anteil der Kernenergie an der globalen Stromerzeugung ist allerdings aufgrund der insgesamt gestiegenen Stromproduktion in der gleichen Zeit von 16,7% deutlich zurückgegangen und lag zuletzt bei 10,1%. Betrachtet man den Anteil der Kernenergie am Primärenergiebedarf, ist dieser mit 4,3 Prozent sogar noch deutlich geringer.

Wenn man sich im Internet umblickt, wie viele Kernkraftwerke es für diese Stromproduktion weltweit gibt, finden sich je nach Quelle unterschiedliche Zahlen. Einerseits findet man einen Wert von 443, anderseits einen von 415. Aber woher rührt dieser Unterschied? Bei genauer Lektüre zeigt sich, dass es weltweit aktuell 443 Kernkraftwerke gibt, die in einem betriebsfähigen Zustand sind. Damit sind allerdings auch jene Kernkraftwerke mitgezählt, die zwar ans Stromnetz angeschlossen, aber nicht in Betrieb, also vorübergehend stillgelegt sind. Dies lässt sich insbesondere mit den 25 japanischen Kernkraftwerken erklären, die aktuell nicht in Betrieb sind, da sie nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima abgeschaltet und bisher nicht wieder in Betrieb genommen wurden. Weltweit gibt es 28 solcher vom Netz genommener Reaktoren. Wer die jeweils aktuellen Zahlen und Informationen dazu haben möchte, der sei auf den World Nuclear Industry Report verwiesen, der jährlich aktualisiert wird, allerdings nur auf Englisch erhältlich ist. Mehr als die Hälfte der betriebsfähigen Reaktoren stehen übrigens in gerade einmal vier Ländern: USA (93), Frankreich (56), China (52), Russland (38).

Die 415 in Betrieb befindlichen Reaktoren haben übrigens ein Durchschnittsalter von 30,9 Jahren. Etwas weniger als ein Drittel der Reaktoren laufen bereits seit mehr als 40, manche gar mehr als 50 Jahren. Das Durchschnittsalter der Reaktoren steigt somit seit Mitte der 1980-er Jahre an! Dies zeigt deutlich, dass die bestehende nukleare Infrastruktur zunehmend „in die Jahre kommt“. Damit steigen auch die Ausfallzeiten für Wartungs- und Reparaturarbeiten. So waren beispielsweise in 2020 die französischen Reaktoren im Durchschnitt 115 Tage im Jahr nicht aktiv. 

Die Anzahl der im Bau befindlichen Reaktoren wird mit 54 angegeben. Häufig wird in der Diskussion auch auf deutlich höhere Zahlen hingewiesen, um zu verdeutlichen, dass die Kernenergie wieder im Kommen sei. So seien neben den 54 im Bau befindlichen weitere 117 Reaktoren in Planung. Wie viele dieser Projekte tatsächlich umgesetzt werden, bleibt derweil offen. Betrachtet man die Bauzeit von Reaktoren, so liegt diese durchschnittlich bei knapp 10 Jahren. Allerdings sind die meisten der aktuell im Bau befindlichen Reaktoren hinter ihren Zeitplänen zurück. Und wollte man den Anteil der Kernenergie zur Deckung des Primärenergiebedarfs erhöhen, müsste man entsprechend viele neue Kernkraftwerke bauen – und das ist nicht in Sicht.

Das Durchschnittsalter zum Abschalten von Reaktoren liegt übrigens bei 42,6 Jahren, so dass aufgrund des hohen Durchschnittsalters die Stromproduktion aus Atomkraft in naher Zukunft eher weiter rückläufig sein dürfte. Betrachtet man die 40 Jahre Laufzeit als Zielmarke, werden alleine in den nächsten 10 Jahren fast 180 Reaktoren außer Betrieb gehen! Die aktuell 54 in Bau befindlichen werden dies nicht ausgleichen. 

So genug der Fakten für den ersten Teil. Im zweiten Teil geht es um die Kosten der Kernenergie. 

Die weiteren Teile dieser Serie werden hier nach Erscheinen verlinkt:

Teil 2: Die Kosten der Kernkraft und des Atomstroms

Teil 3: Kernkraft ist nicht klimaneutral

Teil 4: Kleine Reaktoren: Small modular reactors (SMR)

Teil 5: Die offenen Probleme der Kernkraft

Literatur

World Nuclear Industry Report